Der Dom und ›die Juden‹-Chorgestühl

Tugenden und Laster als bestimmende Elemente des irdischen Lebens sind das Thema der über fünfhundert Figürchen und Reliefs am Chorgestühl, dessen älteste Teile aus dem frühen 14. Jahrhundert stammen.

Die geschnitzten Bilder sind dabei nicht nur biblischen Gleichnissen, sondern auch antiker Mythologie und Motiven aus dem jüdischen Talmud entlehnt.

Die symbolische Darstellung des Lasters der Völlerei an einer der großen Wangen der Nordseite gerät hierbei zu einer antijüdischen Schmähdarstellung: Ein Jude mit spitzer Mütze hält ein Schwein im Arm, an dessen Zitzen ein davor kniender weiterer Jude saugt, während es ein dritter füttert. Vor dem Hintergrund, dass das Schwein im Judentum als unreines Tier gilt, wird die Boshaftigkeit der Szene überdeutlich. Auch in der christlichen Vorstellungswelt des Mittelalters galt das Schwein als Sitz des Bösen und Sinnbild für die Todsünde der Unmäßigkeit. Befördert durch mittelalterliche Schriften, in denen die Maßlosigkeit der Schweine auf ein vermeintlich typisches Verhalten der Juden bezogen wurde, und mit zunehmender Ausgrenzung und Gettoisierung jüdischer Bürger avancierte das Motiv der sogenannten »Judensau« zum antijüdischen Spottbild schlechthin.

Keineswegs freundlicher ist die Darstellung des zweiten Reliefs der Wange, denn hier vermischen sich legendäre und pseudohistorische Begebenheiten zu einer weiteren antijüdischen Bildkomposition. Ein Jude entleert einen großen Trog, aus dem ein großes Schwein und mehrere Ferkel herausfallen. Dabei ist ihm ein zweiter Jude behilflich, der zugleich einen Knaben mit Kreuznimbus an der Hand führt. Der christliche Junge an der Hand des zweiten Juden zielt auf eine der bekanntesten Ritualmordlegenden des Rheinlandes, wie ein späteres Graffito mit einem »W« für Werner und »Mart« für Martyris direkt über der Szene zeigt. Den Gesta Treverorum zufolge wurde der Knabe Werner 1287 in Oberwesel im Hause seines jüdischen Dienstherrn von Juden ermordet.

Die Kunde vom angeblichen Ritualmord verbreitete sich schnell und führte vor allem in den Städten am Mittelrhein schon bald zu zahlreichen Judenpogromen.

Die beiden Reliefs der gegenüberliegenden Wange haben eine der vier Kardinaltugenden zum Thema: die Gerechtigkeit. Gleich zweimal tritt hier der alttestamentliche König Salomo als weiser Richter in Erscheinung. Das rechte Relief setzt auf Altbewährtes und illustriert das weithin bekannte Gleichnis von der wahren Mutter, die ihr Kind lieber einer fremden Frau überlässt, als es dem Richterspruch Salomos folgend in der Mitte durchteilen zu lassen. Nur so gelingt es, die echte Mutter zu identifizieren.

Weitaus weniger bekannt ist die linke Darstellung, bei der es sich ebenfalls um eine Gerichtsszene handelt, die ihren Ursprung allerdings im Talmud hat. In der christlichen Überlieferung trat indes Salomo an die Stelle des richtenden Rabbiners. Um zu klären, wer der einzige leibliche Sohn und rechtmäßige Erbe eines Verstorbenen ist, empfiehlt der weise König den hinterbliebenen Söhnen, mit Pfeil und Bogen auf ihren toten Vater zu schießen, der in ein Leichentuch gewickelt an einen Baum gebunden ist. Der beste Treffer werde es zeigen. Natürlich erweist sich aber nur derjenige als leiblicher Sohn und wahrer Erbe, der sich dem Unterfangen verweigert. Auch wenn das »salomonische Urteil« hier der Illustration einer christlichen Tugend dient, ist es nicht als positives Gegenbild der »Judensau« gedacht. Denn in der Bible moralisée, einem Typus reich illustrierter Handschriften des 13. Jahrhunderts, in denen biblische Begebenheiten durch typologische Gegenüberstellungen moralisierend gedeutet werden, ist die durch Salomo erfolgte Scheidung von Gut und Böse dem Kampf von Ecclesia (d. h. der Kirche) und Synagoge gleichgestellt. Bereits Augustinus hatte in seinen Predigten die gute Mutter als Ecclesia, die schlechte hingegen als Synagoge interpretiert.
Klaus Hardering

Sogenannte Judensau
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Die Darstellung zeigt eine Sau und drei Männer, die durch ihre spitzen Kopfbedeckungen als Juden gekennzeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass das Schwein im Judentum als unreines Tier gilt, wird die Boshaftigkeit der Szene überdeutlich.

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